Erste Schritte

Erste Schritte

Meilensteine nennt man jene besonderen Momente, die alle zeitgenauen Entwicklungsschritte der Babys markieren sollen. Es gibt Meilensteine für das erste Lächeln, für das erste Brabbeln, für den ersten Brei, fürs erste Drehen auf den Bauch, vielleicht auch für das erste Schnarchen und fürs erste schelmische Zuzwinkern zu Mama oder Papa. Und dann gibt es noch den Meilenstein für die ersten Schritte. Für den Moment, an dem das Baby sich plötzlich aufrichtet und das Laufen beginnt. Sagte ich Moment? Ja, weil ich mir diesen Event eben so vorgestellt hatte – als einen Moment und nicht als einen Prozess. Eher ein überraschender Augenblick, in dem meine kleine Krabbelschnecke plötzlich „Aha!“ und „Ta ta!“sagt, sich vom Boden abstützend aufrichtet und mit beiden Armen ausgebreitet wie ein Seiltänzer stolz ihren ersten Kilometer zurücklegt, sich dann umdreht, mit einem bühnenreifen Knick ihre Performance beendet und den Applaus erntet. Das mit dem Knick haben wir fast hinbekommen. Und applaudiert wurde ihr. Sie hat sich selbst auch lächelnd applaudiert, die kleine Schelmin. Es hat sie fast den oberen Zahn und noch ein Paar Nasenknorpel-Korrekturen gekostet, aber am Ende lief sie ganz allein und ohne Hilfe jeglicher Hände, Lauflernwägen oder ähnlichem im Herzen der Innenstadt von Hannover, wo wir diese Woche zu Besuch waren! Doch wie hat dieser Prozess angefangen und wie war die Entwicklung? Das werde ich euch nun gern verraten: Zunächst wurde durch das Entdecken des Lauflernwagens das Bewusstsein geschult, dass die Vertikale doch einiges Interessantes mehr zu bieten hat – und dass Beine nicht nur zum Bodenputzen und Schleifen und Rutschen auf dem Boden geschaffen sind, sondern uns tragen und ganz ganz schnell irgendwohin bringen können, wo es ganz spannend und interessant ist. Darauf folgte das Entdecken der fortschreitenden Balance und damit des Kletterns. Klettern auf die Couch, Klettern auf den Gartenstuhl, Klettern auf dem Haufenberg aus Kissen (oder besser: sich Hinschmeißen auf den Haufenberg aus Kissen, den Mama gebaut hatte) – all das zeigte schon früh Joïes Bereitschaft, die Welt mit neuen Augen beziehungsweise aus neuen Perspektiven zu betrachten. Das Klettern diente wohl auch dazu, die zarten Baby-Oberschenkel, Baby-Arme und den bauchigen Baby-Rumpf zu kräftigen, die Muskulatur zu schulen, um sich anschließend mutig von einer Herausforderung zur nächsten wagen zu können. Dann waren da die täglichen Musik-und-Tanz-Stunden am Couchtisch mit Mama. Offensichtlich hatte der kleine Tisch genau die richtige Höhe für Joïes Abstütz- und Tanzmanöver, sodass sie, sobald die ersten Töne der Melodie erklangen, sich gleich mit dem Rhythmus zu bewegen wusste, mit dem Po energisch wackelte und ein Janosch-würdiges Riesenlachen auf ihr Gesicht zauberte. Diese amüsanten Tanzstunden und Übungen forderten ihr Stehvermögen und sorgten für das weitere Kräftigen der autochtonen Rückenmuskulatur – jenen Muskelgruppen, die an beiden Seiten der Wirbelsäule Wirbel für Wirbel untereinander und mit dem Becken verbinden und als wichtigster Stabilisator bei der Aufrichtung aus der Krabbelphase gilt. Nicht minder wichtig waren die täglichen Spaziergänge durch die Wohnung mit dem Papa an der Hand. Wackel-wackel bewältigten beide nahezu kilometerweite Lauflern-Marathone, die dann Joïe so schön müde machten, dass sie anschließend nach Brei und Bad tief und mühelos einschlief – wie ein Bauarbeiter nach einem harten Tag. Den letzten Schliff gab dann die grüne Wiese im Garten der Großeltern. Barfuß, an der Hand von Oma, marschierte Joïe Schritt für Schritt selbstbewusst im weichen seidenzarten Gras und schluchzte vor Freude. Einmal hin zum Ende des Gartens, zu den großen Tannen, einmal zurück, einmal hin zum japanischen Garten, mit den Steinchen spielen, hindurch zum Hortensien-Busch, dann einmal quer zum neu vom Opa errichteten Sandkasten, dann zackig hin zum Kräuterbeet hinlaufen und aaach, den Lavendel riechen, mmmh wie schön, und, „Hey, Oma, lass mich diese Pflanze mal schmecken“ grimassieren … und dann wird Oma weiter an der Hand gezogen und hin und her und her und hin gezerrt bis sich die Balken biegen – oder sollen wir sagen, bis die Wiesenblumen abgegrast sind? Als Joïe am nächsten Tag auch ihren Ur-Großopa an die Hand nahm, um ihm die Pflanzen und Bäume im Garten zu zeigen, waren zwei Dinge klar: Erstens schätzte sie sehr die Gärtnerkunst ihres Großvaters. Und zweitens hatte sie den nächsten wichtigen Meilenstein erreicht. Joïe konnte laufen! Da war es keine große Überraschung mehr für mich, Joïe einen Tag später laufen zu sehen – vollkommen allein, ohne die helfende Hand von Oma und auch ohne Angst in im Gesicht. Eine kleine Unsicherheit war da noch, aber wachsender Mut und mehr Selbstsicherheit hatten dafür gesorgt, dass die richtige Angst verschwunden war … und Joïe begriff, was sie da erreicht hatte! „Bravo Joïe, Bravo“, konnte man heute durch die Innenstadt von Hannover hören, als sie dann anfing, alleine und stehend – beziehungsweise: laufend und nicht mehr krabbelnd – die zentrale Plätze der Stadt, wie die berühmte Kröpcke-Uhr, erkunden zu wollen. So ist es also. Die ersten Schritte sind vollbracht. Erste Schritte auf den unbekannten Weg eines neuen Lebens. Eine neue Spur im Universum. Da, wo ich herkomme, ist es Brauch, dass wenn ein Kind die ersten Schritte macht, die Mutter ein Brot – eine Pita – backt und Freunde, Nachbarn, Bekannte zum Schmaus einlädt. Meine Lieben, ich mache mich jetzt auf zum Backen – aber davor habe ich für euch ein altes Foto als Kuriosität herausgekramt … und wer mir sagen kann, wer auf dem Foto abgebildet ist, bekommt auch gern ein Stück von Joïes Erste-Schritte-Pita! Bis dahin und bis bald! Eure Radina Stolz und Joïe Läufer

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