Sechs Stunden und eine Ewigkeit

Sechs Stunden und eine Ewigkeit

Angefangen hat es am Sonntagmorgen um 5.20 Uhr, als ich davon aufwachte, dass ich drauf und dran war, ins Bett zu pinkeln. Hm, nur ein paar Tropfen verloren, auf ins Bad. Also stand ich auf und ging ums Bett herum. Platsch, da ergoss sich das Fruchtwasser auch schon auf dem Teppich davor. Das fand ich erst mal recht witzig, denn es machte wirklich ein „Platsch“-Geräusch. Kleinlaut, um Papa nicht zu sehr zu schocken, sagte ich „Daaaniel?“ – „Hm?“ – „Die Fruchtblase is’ grad geplatzt.“ Das war offenbar nicht sensibel genug, denn er schlug wie vom Blitz getroffen auf den Lichtschalter hinter dem Bett ein und saß wie ein Stehaufmännchen im Bett. „Wir müssen ins Krankenhaus!!“ (Nachtrag Daniel: Panik!) „Typisch deutsch“, dachte ich mir. Und: „… stress mich nicht.“ Ich sagte aber nur ganz ruhig: „Ne, jetzt muss ich erst mal Pipi machen gehen. Und meine Tasche packen.“ Außerdem entschloss ich mich dazu, noch zu duschen. Immerhin hatte ich mir gerade die Beine vollge … äh … fruchtwassert.

Daniel rannte mir also aufgescheucht hinterher ins Bad und googelte erst einmal, um mir zu beweisen, dass man bei „vorzeitigem“ Blasensprung wegen der „ab jetzt möglichen Infektionsgefahr“ sofort ins Krankenhaus sollte. Also willigte ich ein und duschte, während Daniel sich um den Teppich kümmerte und kurz mit dem Hund nach draußen verschwand. (Nachtrag Daniel: Die ist sich doch dem Ernst der Lage gar nicht bewusst, wie kann man nur so verantwortungslos sein, jetzt noch zu duschen?!) Ehrlich gesagt weiß ich nicht recht, was er alles gemacht hat, außer aufgeregt zu sein. Da konnte ich noch lachen und hatte alle paar Minuten meine schon lange dagewesenen Senkwehen, bei denen ich mir jetzt nicht sicher war, ob es denn Wehen sind oder was auch immer. War gut auszuhalten, kam eben nur relativ oft – so alle zwei Minuten, wusste ich dank meiner schlauen App, die ich mir extra vor ein paar Wochen heruntergeladen hatte.

Mit einer dicken Binde im Schritt stapfte ich – nicht aufgeregt, aber schon irgendwie verpeilt – durch die Wohnung, um meine Tasche zu packen. (Nachtrag Daniel: Habe ich sie nicht schon Wochen vorher gebeten, diese blöde Tasche zu packen?!) Zum Glück hatte ich auch hier mitgedacht und eine Liste erstellt mit allem, was ich dabei haben wollte. Daniel war leicht gereizt, dass ich erst jetzt packte. Allerdings war das ein wenig kompliziert, da ich drei Mal von abgehendem Fruchtwasser aufgehalten wurde, ich meine Unterhosen und Binden wechseln musste und deshalb ungefähr 20 Minuten benötigte, um meine zehn Teile einzupacken – und doch die Hälfte vergaß. Daniel regte sich in der Zwischenzeit darüber auf, dass ich meine Unterhosen überall liegen ließ.

Am Ende wurde es mir zu blöd. Ich klemmte mir einen Waschlappen zwischen die Beine und wir fuhren los. Nicht in meinem Auto. Aber auf einem Handtuch. Ging alles gut, der Waschlappen stellte sich als effizient heraus. Die Fahrt war ganz lustig, die Radiomusik gut, die Wehen wurden minimal stärker und da wusste ich, okay, es sind wahrscheinlich schon Wehen.

Im Krankenhaus angekommen wurden wir zuerst in ein Zimmer mit Wehenschreiber und Liege gebracht. Ich machte mich auf die Suche nach einem Klo, denn ich musste mal ganz dringend „groß“. Das Gefühl, kombiniert mit Wehen, ist gar nicht so schön, sag’ ich euch. Wir begannen also, die Wehen aufzuschreiben, und ich bekam eine Nadel gelegt für mein Antibiotikum, das ich wegen den Streptokokken bekommen sollte. Meine Hebamme Ina war super nett, ich hatte schon Angst, dass sie zu nett wäre, aber dazu später mehr. Meine eigentliche Hebamme war ja im Urlaub. Um 8 Uhr untersuchte sie dann meinen Muttermund. KOMPLETT ZU! Na super, dauert also noch ewig. Dachte ich mir ja schon, immerhin lag meine Mama bei allen Kindern einen Tag lang in den Wehen. (Nachtrag Daniel: Lass es bitte schnell gehen, das schafft sie niemals, 30 Stunden in den Wehen zu liegen) (Nachtrag Leonie: Äh, Hallo??? #§&?“ ) Dann machte die Ärztin noch einen Ultraschall und beide meinten, dass wir ein relativ kleines Kind bekommen würden. So ca. 3000 Gramm.

Wir entschlossen uns, Opa auf seiner Pflegestation zu besuchen, der ein paar Tage zuvor operiert worden war. Was ich nicht hörte, war, dass Ina zu Daniel meinte, ich würde es sowieso nicht sehr lange aushalten. Sie sollte Recht behalten, schon auf dem Weg nach oben hatte ich drei Wehen – und nach zehn Minuten mussten wir unseren Besuch abbrechen. Sogar die Pfleger auf Opas Station guckten mich ganz verdutzt an und wussten gar nicht, warum ich da jetzt keuchend stehe. Noch nie ’ne Frau in den Wehen gesehen, oder was?

Allerdings machten wir uns nochmal auf den Weg in die Notbehandlung, damit ich ein wenig frühstücken konnte. Mir war schon ganz schlecht, ich hatte ja nichts zu mir genommen seit dem Langosch beim Tanzen auf dem Sommernachtsfest in der Nacht zuvor. Also besorgte Daniel mir eine Cola, und nach drei Bissen vom Brötchen und vier weiteren Wehen hatte ich das Gefühl, wieder nach unten zu müssen. Wir machten uns wieder auf den Weg in unser Räumchen, wo ich nicht mal mehr auf der Liege liegen konnte. Ich lehnte mich nur daran oder saß auf dem Ball. Ich wollte aber gerne liegen und schlafen, keine Geburt, sondern einfach nur schlafen. Tja, das war wohl keine Option. Und schon musste ich mich übergeben. Während der Wehe. Lecker Cola und Brötchen.

Die Idee mit der Wannengeburt fand Ina wegen der Streptokokken nicht so toll, und doch kam sie und meinte, wir sollten mich einfach mal hineinlegen und gucken, wie es mir gefiele. Schmerzmittel lehnte ich dankend ab, ich hatte mir ja vorgenommen, eine sehr natürliche Geburt zu durchleben. Um ca. halb zehn stieg ich also in die Wanne, wo die Wehen zwar stärker und schmerzhafter werden sollten, die Pausen dazwischen allerdings länger, erklärte Ina. Genau das trat auch ein, und ich konnte zwischen den Wehen völlig entspannen und verlor jegliches Zeitgefühl. Das tranceähnliche Gefühl, von dem ich vor der Geburt gelesen hatte, entfaltete sich total, und ich nahm alles außenherum nur von weiter Ferne her wahr. Nach einiger Zeit wurden die Wehen wirklich so stark, dass ich mich an Daniel krallte, der neben der Wanne saß und perfekt reagierte. Er ließ mich alleine und war trotzdem so präsent, dass ich mich nicht alleingelassen fühlte. (Nachtrag Daniel: Das tat ihr richtig gut, aber für mich war das irgendwie stressiger, da war ich noch hilfloser, weil sie so starke Schmerzen hatte.)

Schmerzmittel? Immer noch „Nein!“ – aber vielleicht ein wenig krampflösendes Buscopan (das zur Hälfte hineinlief und, was wir nicht wussten, gar nicht mehr nötig war…) Zu diesem Zeitpunkt ging dann auch immer wieder ein wenig Blut und Fruchtwasser ab. Oder pinkelte ich während der Wehen einfach nur ins Wasser? Keine Ahnung, und es war mir auch egal. Rückblickend war das der blödeste Zeitpunkt der Geburt. Ein einziges Mal sagte ich zu Daniel, dass ich es nicht schaffen würde, ich könnte nicht mehr. Dann kam Ina, und ich beichtete, dass ich wüsste, ich dürfte noch nicht, aber bei der letzten Wehe hätte ich schon mal ein klein wenig pressen müssen … (Während ich das hier schreibe und ich Mika auf der Brust schlafen habe, bin ich ganz aufgeregt und fiebere wieder mit mir selbst mit, es war eben so unglaublich.)

Also zitierte Ina mich aus der Wanne, und genau das wollte ich auch, denn angenehm war das Wasser jetzt nicht mehr … und ich wusste gar nicht, in welche Position ich mich begeben sollte, ohne das Gefühl zu haben, sterben zu müssen. Denn genau das dachte ich in diesen Momenten. Hätte man mir eine Pistole gegeben, ich hätte sie dankend angenommen. Daniel und Ina trockneten mich ab, warfen mir ein Flügelhemd und von hinten einen Bettbezug über, damit wir uns auf den Weg in den vier Meter entfernten Kreißsaal machen konnten. Wäre es nach mir gegangen, wäre ich nackt rüber spaziert, mir war alles egal und jede Kleidung am Körper eine Last. Die hatte ich mir vor dem Bad ja selbst heruntergerissen.

Mitten auf dem Gang zwischen Badewanne und Kreißsaal bekam ich eine weitere Presswehe. Da wurde mir erst klar, dass das Presswehen waren. Ina stand vor mir und stützte mich. Fast hätte ich ihr in den Arm gebissen, das weiß ich noch. Und auch, dass das Pressen im Stehen super unbequem war. Und dass ein paar Meter weiter eine andere Schwangere saß, die gerade an den Wehenschreiber ‚gefesselt‘ war. Ina erlaubte mir zu pressen, ich wollte sterben. (Nachtrag Daniel: Oh Gott, ich kann überhaupt nichts tun, wie kann man nur so hilflos sein?!) Als die Wehe vorüber war, „rannte“ ich los und meinte nur: „Jetzt aber schnell!“ – in dem Wissen, dass die nächste nicht lange auf sich warten lassen würde.

Auf der Kreißsaalliege angekommen untersuchte mich meine Hebamme erst nochmal, und ich wollte zwischen zwei Wehen jetzt plötzlich doch eine PDA und alle verfügbaren Schmerzmittel. Erst mal gucken, ob das überhaupt noch nötig sei, war der einzige Kommentar. Und tatsächlich, Muttermund komplett offen, kommentierte sie ganz ruhig und spazierte zur Tür, wo sie ihre Kollegin rief (dies übrigens in einem Ton, den ich allzu gut kannte und selbst an mir hatte, wenn ich alarmiert war, aber den Patienten nicht beunruhigen wollte) und sie bat, ihr zu helfen, alle Utensilien für eine Geburt herzurichten. Da dachte ich mir nur, ihr wollt mich doch alle veräppeln.

Also lag ich ein wenig allein gelassen, aber für mich völlig okay in den Wehen, während um mich herum alles vorbereitet wurde. Ich hatte mich auf die Seite gelegt, Daniel stand an meinem Kopf, und beim Pressen sollte ich mein Bein festhalten, wofür ich aber gar nicht genug Kraft hatte. (Nachtrag Daniel: Ich kann doch jetzt nicht so schnell ein Kind bekommen.) Ich spürte, dass mein Darm trotz „Fasten“ und mehrmaligem Übergeben wohl nicht komplett leer war und meinte – der Albtraum der meisten meiner Freundinnen –, dass ich gerade wohl nicht nur dabei war, ein Kind aus mir herauszupressen. Aber auch das war mir völlig wurscht in einem Moment voller Schmerz und Ungewissheit darüber, wie man jetzt ein Kind durch sein Becken drücken sollte. Wenigstens etwas, bei dem ich schon wusste, wie es funktionierte und sich anfühlte. ;)

Alles war vorbereitet und Ina merkte, dass mir die Rückenlage gar nicht gut tat. Sie befahl mir kurzerhand, mich in den Vierfüßlerstand zu begeben und mich an die Lehne der Liege zu lehnen. Sie war also doch nicht zu nett und wusste, genau wie der Arzt kurze Zeit später, dass sie mir in den Hintern treten mussten. Nach zwei Wehen merkten sie relativ schnell, dass ich mich während der Wehenspitze eher dafür entschied, nicht zu pressen, denn es tat mir dann doch zu sehr weh. Eine kurze, strenge Information darüber, dass es meine Schuld sei, dass es nicht voranginge und dass ich es in der Hand hätte, wie lange es noch dauerte, brachte mich dazu, mich einfach zu überwinden und keine Angst vor möglichen Rissen mehr zu haben. Alles was ich dachte war, „Ina, mach bloß deinen Dammschutz richtig“ und presste mit der nächsten Wehe genau so, wie ich es sollte. Als der Kopf dabei war, durchzutreten, sollte Daniel an mein Fußende kommen, um sehen zu können, wie Mikas kleiner Kopf sich auf den Weg machte. (Nachtrag Daniel: Wow, da kommt jetzt kein Patient oder so, sondern mein Kind!!)

Ich hatte ganz kurz den Satz „Mach ’n Foto“ auf der Zunge, als sie meinten, dass das Baby blonde Haare hätte, traute mich aber dann doch nicht, es zu sagen. Daniel kam wieder zu mir nach oben, obwohl ich ihn sowieso nicht recht wahrnahm oder Hilfe von ihm benötigte, nachdem das Köpfchen da war. (Nachtrag Daniel: Gar nicht wahr, sie hat mir in den Arm gebissen.) Eine Wehe später spürte ich, wie der Rest des kleinen Geschöpfes aus mir herausgezogen wurde – und schon lag es zwischen meinen Beinen. Ich schaute an mir herunter und sah „Oh, ein Junge“, schaute zu Daniel hoch und meinte nochmal „Schatz, wir haben einen Jungen“. Keine Reaktion seinerseits, und auch ich wusste nicht so recht, wohin mit allem. (Nachtrag Daniel: Da musste ich schon mit den Tränen kämpfen, ein unglaubliches Glücksgefühl.)

Ich setzte mich also auf meine Füße, noch immer mit meinem Kind durch die Nabelschnur verbunden, die ich pulsieren fühlen sollte. Tolles Gefühl. Aber warum tut denn keiner was? (Nachtrag Daniel: Das waren in Wirklichkeit nur Sekunden.) Ich traute mich kaum, das kleine glitschige Wesen zu berühren und konnte es schon gleich gar nicht hochheben. Also machte ich einfach die U1 und startete zu checken, ob alles an meinem Kind dran ist. Die Wirbelsäule zu, alle Zehen dran und ein Popoloch hatte er auch. Als Ina sah, was ich da tat, fing sie an zu lachen. Noch immer keine Reaktion von Daniel.

Dann kam Ina mit den Klemmen und Daniel schnitt die Nabelschnur durch (Nachtrag Daniel: Nabelschnur, ganz schön festes Ding.) – immer noch zwischen meinen Beinen. Ich war weiterhin so verwirrt, dass Ina mir anbot, ihn mir auf die Brust zu legen, nachdem ich mich auf die Liege gelegt hätte. Das Angebot nahm ich dankend an und war froh, dass mir jemand sagte, was ich tun sollte. Dann hatte ich mein wunderschön rosiges kleines Baby auf der Brust liegen – und meine Welt war perfekt. Mir ging es so wunderbar und ich war so selig, ich kann es gar nicht erklären. Die Plazenta machte noch einige Probleme und wollte nicht herauskommen, sodass ich akupunktiert wurde, an meinem Bauch herumgedrückt, ein Kühlakku darauf gelegt und mir letztendlich Wehenmittel gespritzt und ich katheterisiert wurde, damit ich nicht ausgeschabt werden musste.

Die Wehen kamen dann nochmal so stark, dass ich mich wieder fast übergeben musste. Es ist unglaublich schwer, zu pressen, wenn man nicht das Gefühl hat, man müsste. Außerdem fehlte mir der Druck von oben, ich hatte ja jetzt einen leeren Bauch. Nach einer guten halben Stunde hatte ich es geschafft und die Plazenta war draußen. Ich war so erschöpft, lag einfach nur da und fühlte mich wie jemand, der zu viele Drogen genommen hatte: weggebeamt, kombiniert mit Übelkeit und Trance. (Nachtrag Daniel: Das fand ich jetzt gar nicht so krass.) Daniel und die Hebamme vermaßen mein kleines Baby. Er setzte sich zu mir, mit der Papierverpackung einer Kompresse und einem Kugelschreiber in der Hand, und wollte wissen, wie wir unseren Sohn nun nennen sollten. Ich lag nur da und guckte meinen Mann an, den Papa meines Kindes, und konnte ihm nicht antworten. Ich war einfach zu schwach. Währenddessen rief Ina ihm die Maße zu, die er auch notierte. Also schrieb Daniel einen Namen auf, sah mich fragend an, und nachdem ich nicht reagierte, war es wohl entschieden. (Nachtrag Daniel: Naja, wenn sie nichts sagt, schreib ich den Namen einfach mal so auf, wie ich es mir denke.)

Ich wurde noch schnell untersucht. Mein Doktor und die Hebamme teilten mir mit, dass ich nicht genäht werden müsste, da ich nur zwei kleine Schürfwunden hätte, aber nicht gerissen wäre. Wegen der Nachwehen bekam ich eine Schmerztablette, derweil Daniel mit der Hebammenschülerin das Baby badete. Ich wurde in Ruhe gelassen, und genau das benötigte ich in dem Moment auch. Danach durften wir alleine sein. Zu dritt. Als Familie. Wir wurden in einen anderen Kreißsaal gebracht, weit abgeschieden von den anderen, und durften dort auf unser Zimmer warten. So lag ich in meinem Bett, ein kleines eingepacktes Wesen in meinem Arm, und der stolze Papa an meinem Fußende. Erschöpft und unglaublich glücklich, es geschafft zu haben. Einem kleinen gesunden Jungen das Leben geschenkt zu haben.

Leonie, Daniel und Mika Louis (3005 g, 50 cm, Kopfumfang 33,5 cm)

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