Toleranzübung

Toleranzübung

Die Zeit rennt vorbei und Mika ist schon 9 Wochen alt. Eine Zeit voller Anstrengung und Stress – und doch eine der glücklichsten in meinem Leben. Alles um mich herum steht still, und doch hat ein Tag nicht genügend Stunden, um Mika genug zu knuddeln, anzusehen und zu küssen. Er schläft ja oft nur auf meinem Arm. Aber trotz der Tatsache, dass ich zu fast nichts komme, finde ich es überhaupt nicht schlimm, dass er mich benötigt, um zur Ruhe zu kommen. Allerdings hat es deshalb auch so lange gedauert, bis ich die Dankeskarten versenden konnte, die unsere liebe „Tante“ Selina zusammen mit uns gestaltet hat. Habt ihr schon einmal versucht, mit einer Hand Karten zu schreiben, während man wippend mit einem nörgelnden Kind im Arm auf der Couch sitzt und sich fühlt, als wäre man seit Jahren nicht mehr still gesessen? Mein Arm scheint niemals müde zu werden – und immer, wenn ich denke, ich kann vor lauter Müdigkeit nicht mehr geradeaus schauen und müsste mindestens einen Tag durchschlafen, um wieder die alte Leonie zu sein, bin ich nach 6 Stunden und mit zweimaliger Stillunterbrechung wieder topfit. Toll organisiert hat Mutter Natur das. Und genau das war die letzten Tage auch nötig. Denn viel geschlafen hat mein kleiner Mann (im Gegensatz zu meinem großen) nicht. Zum einen, weil Mika gerade wieder einen Wachstumsschub durchmacht – und zum anderen, weil wir viel unterwegs waren: Der liebe Opa hatte Geburtstag, und so versammelte sich eine bunte Gruppe voller verrückter Verwandter und Freunde, die Mika noch nicht kennengelernt hatte. Am meisten freute ich mich über den Überraschungsbesuch von Uroma und Uropa, die ja immer sehr aufmerksam den Blog verfolgen, aber leider weit weg in Freiburg wohnen. Den ganzen Tag wurde gequatscht, gegessen und der Kleine herumgegeben. Wie jede Mutter hatte ich mir geschworen, mich niemals von Urteilenden und Besserwissern verunsichern zu lassen und stets mein Ding zu machen. Denn das ist, wie meine Mama immer sagt, meist das Richtige. Und man sollte im Zweifelsfall immer auf sein Herz und sein Gefühl hören. So habe ich bisher verfahren und war auch glücklich damit. Allerdings: dieses Wochenende wurde ich erstmals hinterfragt und, wie ich meine, ein wenig verurteilt. Ich fing an, zu erklären, warum Mika nur bei mir im Arm richtig entspannt sei. Mit einleuchtenden Argumenten erläuterte ich eine ganze Weile, was ich in meiner Ausbildung und während meine Geschwister groß wurden alles gelernt hatte. Dass Kinder nach 9 Monaten engstem Kontakt zur Mutter nicht einfach alleine sein könnten und evolutionsbedingt beschützt werden wollen, hört sich für mich logisch an. Dass „allein gelassen werden“ für Jungtiere schlicht und einfach den sicheren Tod bedeutet. Und dass Kinder nicht gerne Gemüse essen, da grüne Dinge eben auch oft giftige Pflanzen sind. Eben Instinkte und Gefühle, die noch tief in uns verankert sind. (Ich rechtfertige mich schon wieder …) Nun ja, ich fühlte mich in die Enge getrieben und wollte verstanden werden. Außerdem ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich mich ärgerte und gefallen wollte. Einmal mehr hat sich mir aufgezeigt, dass das Thema Erziehung noch einen langen Weg bedeutet, der sicher nicht einfach werden wird. Unglaublich empfindlich und verletzlich bin ich auf einmal, wenn es darum geht, wie ich mit meinem eigenen Kind umgehe. Dabei sind mir die Begriffe „verziehen“ und „verwöhnen“ stets ein Dorn im Auge und machen mich manchmal ganz wütend. Dann wird mir klar, wie unglaublich wichtig es ist, sich selbst immer wieder daran zu erinnern, andere nicht zu verurteilen. Ob es um Kindererziehung oder Religion oder die Art seinen Baum zurechtzuschneiden geht. Meist haben die Leute sich etwas dabei gedacht und wollen einfach nur ihr Ding machen. Keiner denkt sich, „Ach, so ein blöder Kommentar wär doch jetzt was …“ Und da man das nicht will, sollte man sich zügeln und sich erinnern, wie man die Situationen oft selbst erlebt hat. Deshalb verstehe ich nun sehr viel besser, wenn Kinder im Kaufhaus schreiend auf dem Boden liegen oder wenn Mütter unfrisiert und gestresst viel zu spät zu einem Termin erscheinen. Dass wir großen Kinder oft unsere Mama hinterfragt und ihr aufgezeigt haben, dass sie uns viel strenger als die Kleinen erzogen hat. Dass wir uns eingemischt und beschwert haben, bereue ich heute, wo ich merke, wie nervig das sein kann. Dass meine Mama sich nun total raushält, mich fragt, wenn sie etwas mit Mika machen möchte und mich unterstützt bei all meinen Entscheidungen, hilft mir sehr (danke, Mama!). Es gibt eben immer etwas, an dem man arbeiten kann. An einem selbst, nicht an den anderen. Die gestresste Mama, die ihrem Kind Schokolade in den Mund stopft, wird ihre Gründe haben. Die Mama, die seit Tagen denselben dreckigen Pullover trägt, hatte vielleicht einfach keine Zeit, sich ein tolles Outfit zusammenzustellen. Und die Mama, die sich stundenlang nicht bewegt, damit das Baby nicht aufwacht, obwohl sie auf einem Spielzeug sitzt, das ihr in den Hintern bohrt, verdient Respekt. In diesem Sinne, bis nächste Woche … Liebe Grüße die sensible Mama und ihr verwöhntes Kind

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